Musik und Kultur in Theresienstadt
Vortrag in der Hochschule für Musik am 11. Februar 2023
von Gudrun Mitschke-Buchholz
„Gideon Klein ist zweifellos ein sehr bedeutendes Talent. Sein Stil ist der kühle, sachliche der neuen Jugend; man darf sich über diese merkwürdig frühe, stilistische Abklärung wundern. […] Unsere Jugend hat starke, intelligente Gehirne; hoffentlich vermag sie auch das Herz in den Kopf zu heben.“
„Assyrische Frühgeschichte, Die Blinden und ihre Umwelt, Chemie der Nahrungsmittel, Hundert Probleme der Technik des Alltags, Konjunktur und Wirtschaftskrise, Beruf und Ethik“ oder auch „Bilanz und Steuer“ bieten nur einen Ausschnitt aus den rund 500 hochkarätigen Vortragsveranstaltungen, die – so möchte man meinen – dem Angebot der Akademie der Wissenschaften entstammen. Weit gefehlt. Das Kaleidoskop kultureller Veranstaltungen lässt sich in beeindruckender und vielschichtiger Weise erweitern: Durch Musik mit Oper, Kammermusik, Chor- und Orchesterwerke und Swing, bildende Künste, Theater, Kabarett, eine große Bibliothek, Schriftsteller, Maler und viele Künstler von hohem Rang. Welchen Kosmos betreten wir? Die eingangs erwähnte Vortragsreihe wurde durch den sog. Orientierungsverein organisiert. Die durch Idealismus und wahrscheinlich auch durch Verzweiflung befähigten Mitglieder dieser Gruppierung hatten es sich zur Aufgabe gemacht, verirrte und verwirrte Menschen, die desorientiert auf den Straßen aufgefunden wurden, zu betreuen und ihnen so etwas wie die Gewissheit einer Seite des Menschseins unter die Füße auf dem sich auflösenden Boden zu bringen – als Gegenwelt ihrer alltäglich erlebten Realität, die Theresienstadt hieß.
Von Viktor Ullmann, einer der bekanntesten Komponisten, die in Theresienstadt inhaftiert waren, stammt die eingangs zitierte Passage aus seinen 26 erhaltenen Musikkritiken. Sie geben kostbare Einblicke in die kulturelle Szene des Ghettos. Die Darbietungen vieler Art spielten eine überaus wichtige Rolle in dieser Lebenswelt – sie waren eine Form der Bewältigung des Grauens mit künstlerischen Mitteln bis hin zu einem satirischen Blatt, das im Ghetto erschien. Kultur entstand und entfaltete sich unter den denkbar schlechtesten Bedingungen des Zwangsaufenthalts, des Verlustes, des Hungers, der Gewalt und der Verelendung. Sie wurde zum Ausdruck von Trost, Selbstvergewisserung, Illusion und Widerstand gleichermaßen. Für das Nebeneinander von Hochkultur und Hunger, Verzweiflung und Tod fand Viktor Ullmann in seinem Aufsatz „Goethe und Ghetto“ einen mehr als beredten Ausdruck.
Theresienstadt als Vorzeige- oder als Künstlerghetto entzieht sich nicht nur einer eindeutigen Zuordnung in das NS-Haftstättensystem. Theresienstadt wurde auch zu einem Mythos, zu einer Legende. Verklärt durch die Vorstellung, hier sei ein bevorzugter Ort nicht nur für deutsche Juden gewesen, für Prominente, Künstler und Wissenschaftler. Der Historiker Wolfang Benz bezeichnete dieses Ghetto, das keines im eindeutigen Sinne war, als „in seiner Einzigartigkeit exemplarischen Ort europäischer Geschichte“.
Dieser „einzigartige“ Ort war aus einer barocken Idealstadt europäischer Festungsbaukunst entstanden. Die sogenannte Kleine Festung, die Teil dieser Anlage war, wurde in der Habsburger Monarchie als Gefängnis für militärische und politische Gefangene genutzt. Im Juni 1940 wurde hier ein Polizeigefängnis der Prager Gestapo eingerichtet. Das „Gestapohaftlager“ bzw. „Polizeigefängnis“ diente fortan als Stätte der Verfolgung, der Folter und entfesselter Gewalt, die viele nicht überlebten. Die Gefangenen passierten am Eingang zum Hof der Kleinen Festung die Inschrift „Arbeit macht frei“.
Ende November 1941 wurde die Stadt in ein Ghetto in der „Großen Festung“ für insgesamt 150.000 Juden aus dem „Protektorat Böhmen und Mähren“ umgewandelt. Zu Theresienstadt gehörten zudem neun Außenlager, sog. Außenkommandos. In der Folgezeit wurde Theresienstadt als Konzentrations- und Durchgangslager für Juden auch aus Deutschland, Österreich, den Niederlanden, Dänemark und der Slowakei genutzt. Für die Deportation nach Theresienstadt genügte ein einziger Grund, und zwar der, jüdisch zu sein.
In Theresienstadt wurden ab November 1941 die Deportierten unter primitivsten Bedingungen in den Kasernen untergebracht. Ähnlich wie in anderen Ghettos und Konzentrationslagern wurde auch in Theresienstadt eine jüdische „Selbstverwaltung“ errichtet, die die Befehle der SS ausführen musste und kaum über Möglichkeiten verfügte, das Leben der Häftlinge zu erleichtern. Die Hoffnung der Häftlinge, dass Theresienstadt der Ort wäre, an dem sie bis zum Ende des Krieges würden leben und arbeiten können, ging schnell in die Brüche.
Theresienstadt war eine Station der „Endlösung der Judenfrage“ der nach der Wannseekonferenz 1942 in Gang gesetzten Tötungsmaschinerie. Und Theresienstadt hatte zudem die Funktion, die Welt über die Absichten der Nationalsozialisten zu täuschen. Nach innen und nach außen. Weder für die Weltöffentlichkeit noch für die Inhaftierten sogleich erkennbar funktionierte Theresienstadt als Durchgangsstation zu den Vernichtungslagern im Osten: Nach Auschwitz-Birkenau ging die Hälfte der 63 Transporte, die aus Theresienstadt abfuhren. So erhielt das vermeintliche Vorzeigeghetto den Beinamen „Wartehalle für Auschwitz“. Theresienstadt wurde in der NS-Propaganda zu weiteren Täuschungszwecken als sogenanntes „jüdisches Siedlungsgebiet“, Alters- und Vorzugsghetto für Juden über 65 Jahre und für diejenigen mit Kriegsauszeichnungen auf zynische Weise verklärt und als angebliche „jüdische Mustersiedlung“ ausländischen Delegationen vorgeführt. Den Menschen wurden sogenannte Heimeinkaufsverträge angeboten, in denen ihnen bis zu ihrem Lebensende angemessene kostenfreie Unterbringung, Verpflegung und ärztliche Versorgung zugesichert wurden. Als die Getäuschten und Betrogenen die Wirklichkeit des Lagers nach und nach erkannten, waren sie ihres Vermögens, ihrer Hoffnungen und ihres Glaubens an das Menschsein beraubt. Die harte Realität des Ghettos traf insbesondere die hochbetagten Menschen. Viele von ihnen überstanden Hunger, Seuchen, Wassermangel und die Leiden des Lagerlebens nicht lange. Für eine Person gab es durchschnittlich 1,4 m² Wohnfläche. Allein in der sogenannte Sudetenkaserne wurde eine größere Zahl Häftlinge untergebracht als die Stadt vor dem Krieg Einwohner hatte.
Wie gingen die Menschen mit dem perfiden Betrug, der Täuschung und dem Verlust all dessen, was sie bis dahin zu sein glaubten, um? Zu welchen Reaktionen waren die, manche Ghettobewohner in der Lage, in einer Welt, die eine Katastrophe war? Theresienstadt erzählt etwas von Überlebensstrategien, über die Kraft von Kunst und Kultur, über Selbstvergewisserung und persönliche, soziale und religiöse Identität – in einem Kosmos, in dem kaum mehr etwas Gültigkeit hatte, in dem Gewalt, Entwürdigung und Demütigung regierten. Es erzählt etwas über die Auflehnung gegen das Diktum, Juden seien Untermenschen, und damit zu wirklicher Kultur unfähig. Als die Machthaber die hohen künstlerischen Begabungen der Inhaftierten zu propagandistischen Zwecken missbrauchten, widerlegten sie damit ihre eigenen rassistischen Grundsätze.
Das kulturelle Leben in Theresienstadt wurde keineswegs von Anfang an durch die nationalsozialistischen Herren des Ghettos geduldet oder gar gefördert. Es entwickelte sich zunächst vielmehr aus dem privaten Bedürfnis und gegen die Absichten der Machthaber. So fanden sog. Kameradschaftsabende der Aufbaukommandos statt, bei denen zu Akkordeon gesungen wurde oder Abende, in denen im engsten Kreis mit den wenigen Instrumenten, die verblieben waren, musiziert wurde. Die SS gestattete nach einem anfänglichen Verbot offiziell den Besitz von Musikinstrumenten. Sie hatten offenbar den Gebrauchswert von Musik im Lagerleben im Sinn und wussten durch den Missbrauch der hochrangigen Kulturschaffenden die Weltöffentlichkeit systematisch zu täuschen. Dies unterscheidet sich zum Beispiel vom Mädchenorchester in Auschwitz insofern, als die Musik dort nicht zur Täuschung der Weltöffentlichkeit genutzt wurde, sondern vielmehr zur sadistischen Untermalung der Verbrechen.
Unter diesen unvorstellbaren Bedingungen wurden in Theresienstadt Kammermusik von Brahms, Beethoven, Mozart, Dvorák und Schubert und auch sinfonische Werke durch professionelle Kräfte und Laien zur Aufführung gebracht. Auch neue Musik entstand durch die inhaftierten Komponisten und brachte die ungeahnte Realität zu Gehör. Geprobt wurde nach schwerer Arbeit in kalten Kellern, krank, mit Hunger, zum Teil schlechten Instrumenten und ohne ausreichendes Notenmaterial – und angesichts des allgegenwärtigen Todes. Und dennoch oder gerade deswegen waren diese Proben und Konzerte für die Beteiligten eine lebenserhaltende Oase.
1942 konnte das erste Orchesterkonzert – die von Carlo Taube komponierte „Theresienstädter Sinfonie“ in der Magdeburger Kaserne stattfinden. Das Finale dieser Sinfonie erfasste die Hörenden zutiefst: Die ersten vier Takte von „Deutschland, Deutschland über alles“ wurden immer und immer wieder wiederholt, steigerte sich bis ein letzter Aufschrei „Deutschland, Deutschland“ sich nicht mehr bis „über alles“ fortsetzte, sondern in einer grauenvollen Dissonanz erstarb. Die Zuhörer wussten, wovon dieses Stück erzählte. Es vertonte ihre Lebensrealität und es zeigte, zu welchem Widerstand Menschen in der Lage sind. Menschen, deren physische Vernichtung beschlossen war.
In ständiger Erwartung des Todes brauchte es eine enorme seelische Kraft, um nicht seine Würde zu verlieren und zu schreiben, zu singen, zu rezitieren, zu malen. Die Musik hat wesentlich und wohl vor allen anderen Künsten dazu beigetragen, dass es in Theresienstadt ein Leben in Würde gab. Insofern steht die Musik im Mittelpunkt auch meiner Ausführungen über das kulturelle Leben im Ghetto. Dies heisst nicht, dass andere Künstler, wie Maler und Zeichner und damit die Chronisten des Lagers, von denen manche ihr Tun mit dem Leben bezahlten, nicht in meiner Achtung stehen würden. Genauso wenig die Kinder, deren Zeichnungen den Betrachter mit voller emotionaler Wucht treffen.
Den Grundstein des reichen Musiklebens in Th hatten die böhmischen Juden gelegt. Mit Viktor Ullmann, Pavel Haas, Hans Krása und Gideon Klein wurden ab 1941 die begabtesten tschechischen Komponisten nach Theresienstadt verschleppt. Sie waren Schüler von Schönberg, Zemlinsky und Janácek, sie hatten Erfolge gefeiert und als Pianisten und Dirigenten gewirkt, bis sie 1939 mit Arbeits- und Aufführungsverbot belegt und schließlich deportiert worden waren.
Es entfaltete sich durch die jüdischen Künstler ein reiches kulturelles Leben: Es gab mehrere Chöre, Kabarettgruppen, klassische und Unterhaltungsorchester (von manchen Kollegen der „ernsten“ Musik naserümpfend beargwöhnt), es gab die eingangs erwähnten Musikkritiken, Musikunterricht wurde erteilt und ein von Ullmann geleitetes „Studio für neue Musik“ eingerichtet. Deren wichtigsten Vertreter war Ullmann selbst, Hans Krása, Pavel Haas und auch Gideon Klein, die in unter den extremen Bedingungen des Ghettolebens komponierten und ihre Werke zur Aufführung brachten. In Theresienstadt waren Komponisten und Künstler aber auch sehr begabte Laien zahlreich vertreten, die versuchten, ihre Identität durch die Fortführung ihrer Tätigkeiten zu retten, anderen Häftlingen eine Stütze zu sein und das Menschsein nicht vergessen zu lassen.
Die von der SS seit der Gründung des Ghettos eingesetzte Selbstverwaltung hatte sich aller Belange des täglichen Lebens anzunehmen. Noch 1942 wurde vom Ältestenrat die offiziell genehmigte Abteilung „Freizeitgestaltung“ eingeführt. Die Mehrzahl der kulturellen Aktivitäten wurde von haupt- und nebenamtlich beschäftigten Gefangenen koordiniert. Neben Theater, Vortragswesen, Zentralbücherei und Sport umfasste sie eine sog. Musiksektion. Diese war unterteilt in die Sparten Opern- und Vokalmusik, Instrumentalmusik, Kaffeehausmusik und Instrumentenverwaltung. Sie schuf den organisatorischen Rahmen des geduldeten beziehungsweise erlaubten Musiklebens. Auch diese Institution musste auf jeden Wink der SS verfügbar sein.
Mitarbeiter der sogenannten Freizeitgestaltung, unter ihnen Viktor Ullmann, erhielten Vergünstigungen wie eine bessere Unterkunft, zusätzliche Lebensmittel und die Befreiung von Arbeitseinsätzen – zumindest bis zu ihrer eigenen Deportation. Für propagandistisch inszenierte und gefilmte Konzerte bekamen die Künstler eigens Konzertkleidung – weißes Hemd und Frack. Die Sicht auf ihre kaputten, eigentlich unbrauchbaren Schuhe wurde durch Blumendekorationen verdeckt.
In Theresienstadt waren somit Werke aus dem gängigen Konzert- und Opernrepertoire genauso zu hören wie neu komponierte Werke: Orchester- und Kammermusik kamen zur Aufführung, ebenso Oratorien, Lieder und auch Opern wie „Carmen“ und „Tosca“ oder Smetanas bei den Ghettobewohnern äußerst beliebte „Verkaufte Braut“ oder auch Operetten wie „Die Fledermaus“: „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist“. Nicht nur die Operettenliebhaber unter Ihnen kennen diese Zeilen, die in dieser Welt eine ganz besondere Klangfarbe erhalten.
In dem ab Dezember 1942 eröffneten Kaffeehaus konnten die Ghettobewohner, die einen Berechtigungsschein ergattert hatten, Unterhaltungsmusik und Swing hören, was nicht durchgängig aber eigentlich auf dem Index stand. Der Swing-Gitarrist Coco Schumann, der als Neunzehnjähriger nach Theresienstadt kam, traf mit den „Ghetto Swingers“ auf ein herausragendes Jazz-Ensemble.
Das Kulturleben, das in schärfstem Gegensatz zu den täglichen Versuchen zu überleben stand, war propagandistisch gewünscht. Im Frühling 1943 begann eine „Stadtverschönerung“, deren Präsentation die Weltöffentlichkeit über den wahren Zweck des Ghetto belügen sollte. Bereits im Herbst 1942 waren „Geschäfte“ eröffnet worden, in denen allerding der bei Einlieferung beschlagnahmte Besitz der Häftlinge für wertloses Geld angeboten wurden. Das Kaffeehaus wurde errichtet; ein eigens errichteter Kindergarten existierten für genau den einen Tag, an dem die Besuchskommission erwartet wurde. Das mit großem Aufwand betriebene Täuschungsmanöver gelang auch vor der Kommission des Internationalen Roten Kreuzes im Sommer 1944, der ein Potemkinschen Dorf vorgeführt wurde. Ein idyllischer, frisch geputzter, mit Blumen geschmückter Ort, in dem Kulturveranstaltungen stattfanden, wo die noch vorzeigbaren Bewohner Theater oder Fußball spielten, wo Krásas Kinderoper Brundibar oder Verdis Requiem unter Rafael Schächter aufgeführt wurden und in dem Jazz zu hören war.
Dass die „Verschönerung“ eine Senkung des Häftlingsstandes verlangte, war Voraussetzung dieser zynischen Inszenierung. Vor allem kranke, elende Menschen, die der internationalen Kommission nicht vorgeführt werden konnten, ohne Verdacht zu erregen, wurden nach Auschwitz deportiert. Dies traf im Dezember 1943 5.000 Menschen, im Mai 1944 nochmals 7500.
Der Betrug funktionierte über die Maßen. Die Internationale Kommission des Roten Kreuzes bezeichnete Theresienstadt als „eine Stadt wie jede andere“, ein „Endlager“, von wo aus keine weiteren Deportationen stattfanden. Das wohl bekannteste Beispiel der Propagandalüge war ein "Dokumentarfilm" der in den frisch verschönerten Kulissen mit zwangsweise verpflichteten Häftlingen gedreht wurde, unter der Leitung des ehemaligen UFA-Stars Kurt Gerron. Unter dem Titel „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ erlangte der Film eine entsetzliche Berühmtheit. Noch vor der Fertigstellung des Films begannen die Deportationen, die 18.500 Menschen trafen. Auch Kurt Gerron und seine Frau Olga bestiegen am 28. Oktober 1944 den Zug nach Auschwitz.
Die bedeutendsten Theresienstädter Musiker, Komponisten und Dirigenten, unter ihnen wiederum Viktor Ullmann, Hans Krása, Pavel Haas, Gideon Klein, Rafael Schächter und Karel Ancerl – sie alle wurden am gleichen Tag, dem 16. Oktober 1944, in einem Transport von 1.500 Menschen nach Auschwitz deportiert. 128 von ihnen überlebten.
Gideon Klein, dessen Streichtrio wir heute Abend hören werden, wurde von Auschwitz in das Außenlager Fürstengrube gebracht. Am 19. Januar 1945 begann wegen der nahenden Roten Armee die Evakuierung des Lagers. Über den Tod von Gideon Klein finden sich keine Dokumente. Wir wissen nicht, ob er zu den 250 Menschen gehörte, die sofort erschossen wurden, oder ob er noch auf den Todesmarsch nach Gleiwitz getrieben wurde, um im offenen Bahnwaggon bei minus 20° über Mauthausen nach Mittelbau-Dora transportiert zu werden. Und wir wissen auch nicht, ob er zu den Geschundenen gehörte, die diesen Transport nicht überlebten und dessen Leichen entlang der Bahnschienen gefunden wurden.
Nach der Deportation der führenden Künstler verstummte Theresienstadt keineswegs. Es erfolgte wiederum zu politisch-propagandistischen Zwecken der erneute Aufbau eines Kulturlebens, zum einen durch die verbliebenen Insassen, zum anderen durch neu ankommende Häftlinge. Die Fluktuation war durch die Transporte entsprechend. Auch die Neuankömmlinge spielten um ihr Leben und versuchten, sich auf diese Weise eine Gegenwelt zu erschaffen. Auch sie spielten fatalerweise dadurch eine entscheidende Rolle als Propagandainstrument – missbraucht als Werkzeug ihrer Unterdrücker.
Dennoch: Durch Auftritte in Alters- und Sterbeheimen, durch die Betreuung neu ankommender Künstler, durch ihre Wahrnehmung erzieherischer, bildungspolitischer und psychologischer Möglichkeiten dienten sie angesichts des nahenden Todes der Überlebenshilfe für sich selbst und ihre Zuhörer gleichermaßen.
Vergessen Sie nicht bei all der Faszination durch ein reiches, beeindruckendes kulturelles Leben in Theresienstadt: Von den etwa 141.000 Häftlingen erlebten 23.000 das Ende des Krieges. Aber erlebten sie eine Befreiung? Die anderen hatten die gegenmenschlichen Bedingungen, sie hatten Krankheit, Seuchen, Hunger und Gewalt nicht überlebt.
Theresienstadt, jener unfassbare Ort, über den zu reden auch ein ganzer Abend nicht ausreichte, wurde in der Rezeption und in der Erinnerungskultur bisweilen zur Legende. Im kulturellen öffentlichen Gedächtnis wird dieser Ort oftmals missverstanden als ein Ghetto, an den die Juden zwar zwangsweise deportiert wurden, an dem aber musiziert, komponiert, gemalt, gelehrt, gezeichnet und Lyrik verfasst wurde.
Die Geschichte Theresienstadts ist durch den Zynismus der Täter geprägt. Die Weltöffentlichkeit wurde planmäßig über den Zweck der Einrichtung getäuscht und von den Absichten genozidaler Politik abgelenkt. Und schließlich wurden die Opfer dazu missbraucht, bei dieser Täuschung mitzuwirken. Wenn wir den Klischees vom faszinierenden Kultur-Ghetto, vom Vorzugslager für 40.000 deutsche Juden Glauben schenkten, redeten wir der systematischen, gewollten Lüge, des inszenierten Betrugs, der Täuschung das Wort. Und vergessen wir nicht all die Menschen, die kein Instrument spielten, die nicht sangen, nicht schrieben und auch nicht lehrten. Die weder prominent noch privilegiert noch irgendwie begünstigt waren. Erinnert sei an die Menschen, die in Theresienstadt leise, unbekannt um ihr Leben gebracht wurden.
Das Streichtrio von Gideon Klein und auch die Reflektionen von Ruth Klüger, die nicht nur Theresienstadt überlebte, zeugen von einer Welt der Gegenmenschlichkeit, die jenseits unserer Vorstellungen ist und die aus meiner Sicht in seiner Komplexität angemessen darzustellen oder gar zu begreifen nicht möglich ist. Musik und Kultur von Menschen aus Theresienstadt sind vor diesem Hintergrund Kostbarkeiten, die unserer Wahrnehmung – so hoffe ich – etwas sehr Wertvolles zugrunde legen: nämlich Hochachtung.
Hier werden in loser Folge weitere Arbeiten von Gudrun Mitschke-Buchholz digital publiziert:
„Abgemeldet in den Osten“- Zum 80. Jahrestag der Deportation von jüdischen Menschen aus Detmold nach Riga am 13. Dezember 1941
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Vom Bielefelder Hauptbahnhof wurden die Menschen am 13. Dezember 1941 nach Riga deportiert. (Quelle: Stadtarchiv Bielefeld) |
von Gudrun Mitschke-Buchholz
Als Detmolder Jüdinnen und Juden spätestens am 20. November 1941 von ihrer bevorstehenden „Umsiedlung“ durch ein Rundschreiben der Reichsvereinigung der Juden, Bezirksstelle Bielefeld, in Kenntnis gesetzt wurden, glaubten viele von ihnen an einen Arbeitseinsatz im Osten. Denn in dem Deportationsbescheid fand sich eine detaillierte Auflistung des erlaubten Gepäcks von 50 kg, in dem neben Koffer, Bettzeug und Essgeschirr sowie Verpflegung für drei Tage auch die Mitnahme von Werkzeug gestattet war. Untersagt waren hingegen Wertsachen jeder Art und auch Messer und Rasierzeug, um Gegenwehr und Freitode zu verhindern.
Die Reichsvereinigung hatte zwangsweise die Vorgaben für Lippe an ihr Detmolder Büro, das von Eduard Kauders und Moritz Herzberg geleitet wurde, weitergegeben. Beide Männer waren bereits in Buchenwald in Haft gewesen, und so ist davon auszugehen, dass sie mit ihren dortigen Erfahrungen nur schwer an eine reine Evakuierungsaktion glauben konnten. In panischer Hektik stellten die Betroffenen alles an Materialien zusammen, von dem sie meinten, es in einem wie immer gearteten Arbeitsalltag gebrauchen zu können. Auch die für Ende November noch angesetzten Impftermine verstärkten den Anschein einer Umsiedlung.
Das Detmolder Büro der Reichsvereinigung sorgte „auf eigene Kosten“ für einen LKW, der die Jüdinnen und Juden am 10. Dezember 1941 nach Bielefeld brachte, wo sie drei Tage lang in katastrophalen Umstände im früheren Saal der Gastwirtschaft „Kyffäuser“ am Kesselbrink auf Stroh ausharren mussten. Dort wurden ihnen letzte Wertgegenstände wie Eheringe und auch die Pässe abgenommen. Die Vergabe von Nummern führte den Betroffenen das Ziel dieser Maßnahme vor Augen: „Jetzt sind wir nichts mehr… jetzt existieren wir nicht mehr,“ schilderte 1993 Edith Brandon, geb. Blau aus Minden in einem der wenigen Interviews von Riga-Überlebenden diese Situation. Am 13. Dezember 1941 wurden die Menschen mit Autobussen zunächst zum Bielefelder Hauptbahnhof geschafft und von dort in Personenwagen dritter Klasse nach Riga transportiert. Für die Fahrtkosten mussten sie selbst aufkommen. Die mehr als 1.000 Jüdinnen und Juden des Transportes kamen aus über einhundert Orten im Einzugsbereich der Gestapoleitstelle Münster. Aus diesem Transport sind nur 102 Überlebende bekannt. Manche überstanden den Transport, auf dem ihnen alsbald das Wasser entzogen wurden, nicht.
Als der Zug am 15. Dezember 1941 in eisiger Kälte an der Rampe der Frachtgutstation Skirotava in Riga ankam, mussten die Deportierten im verschlossenen Zug noch einen Tag ausharren, bis sie mit Peitschenhieben von SS-Leuten aus dem Zug getrieben wurden. Ihr mühselig zusammengestelltes Gepäck sahen sie nicht wieder. Den langen Fußmarsch durch tiefen Schnee zum Rigaer Ghetto überlebten wiederum manche nicht: Kranke und Alte wurden erschossen. Misshandlungen waren allgegenwärtig. Im Ghetto selbst lag das, was als „letzte Habseligkeiten“ bezeichnet wird, neben vereisten Blutlachen im Schnee. Die völlig erschöpfen und schockierten Menschen wurden in den heruntergekommenen Häusern eingewiesen. Die Straßen waren nach dem jeweiligen Ausgangspunkt der Deportation benannt war, und so wurden auch die Detmolder Deportierten in der Bielefelder Straße in großer Enge untergebracht. Dort fanden sie zum Teil noch das gefrorene Essen der lettischen Juden vor, die wenige Tage zuvor ermordet worden waren: „Die sind weg – für uns… Wenn kein Platz mehr ist, werden wir so abgemetzelt“, so wiederum Edith Brandon in ihrem Bericht. Dennoch mussten sich die Menschen in dieser gegenmenschlichen Situation mit diesem Wissen einrichten: „Dann hat man überlebt … um zu überleben“ hieß Edith Brandons bittere Bilanz.
Für viele Deportierte bedeutete das Ghetto in Riga das Ende. Für andere war es nur eine Station ihres Leidensweges. Als das Ghetto 1944 aufgelöst wurde, wurden die letzten Überlebenden in Konzentrations- und Vernichtungslager verschleppt. Edith Brandon wurde mit ihrer Mutter nach Stutthof geschafft. Diese erste Deportation aus Lippe jährt sich in diesem Jahr zum 80. Mal. An die mehr als dreißig Betroffenen, die mit Detmold in Verbindung standen, wird im Detmolder Gedenkbuch gedacht. Keiner von ihnen überlebte.
Am 10. September 2020 fasste der Rat Stadt Detmold einstimmig den Beschluss dem Deutschen Riga-Komitee beizutreten, das im Jahr 2000 u.a. vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge gegründet wurde. Diesem erinnerungskulturellen Städtebund gehören 64 Städte aus ganz Deutschland an.
Das vollständige Interview, das Joachim Meynert mit Edith Brandon führte, wird im LAV NRW Abt. OWL verwahrt. Einen Ausschnitt sowohl als Hörfassung als auch in Textform findet sich in „Die letzten Augenzeugen zu hören…“ von Joachim Meynert und Gudrun Mitschke. Bielefeld 1998. Edith Brandons hinterlassene Dokumente sind im United States Holocaust Memorial Museum auch digital einsehbar.
Detmold, im Dezember 2021
Von Detmold in das Warschauer Ghetto – Zum 80. Jahrestag der Deportation von Jüdinnen und Juden aus Detmold nach Warschau am 31. März 1942
Gudrun Mitschke-Buchholz
Eduard Kauders und Moritz Herzberg waren jüdische Kaufleute in Detmold und hatten sich als Vorstandsmitglieder für die Synagogengemeinde engagiert. Beide hatten den Novemberpogrom 1938 miterleben müssen und waren nach Buchenwald verschleppt worden, und sie hatten sich verzweifelt bemüht, mit ihren Familien dieses Land, das sie als ihr Zuhause nur missverstanden hatten, zu verlassen. Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland hatte zunächst noch versucht, möglichst viele Juden bei ihren Emigrationen zu unterstützen. Das Auswanderungsverbot für Juden vom 23. Oktober 1941 hatte alle Hoffnungen auf Flucht zunichte gemacht. Ab September 1939 unterstand die Reichsvereinigung der Kontrolle des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) bzw. der Gestapo und sah sich gezwungen, deren Anordnungen umzusetzen. Kauders und Herzberg waren Leiter des Detmolder Büros der Reichsvereinigung ("Bezirksstelle Westfalen der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland. Büro Detmold für das Land Lippe") und mussten im Dezember 1941 in der grauenhaften Abhängigkeit zum RSHA die Deportation ihrer Nachbarn, Freunde und Bekannten nach Riga mitorganisieren.
Wenige Monate später fand die zweite Deportation lippischer Juden statt. Das Ziel dieses Transports war Warschau. Am 20. März 1942 hatte die Gestapo den Abtransport von eintausend Juden der Stapoleitstelle Hannover angeordnet, zu dem 325 Menschen aus dem Bezirk der Bielefelder Gestapo gehörten. Für diese „Abschiebung“ waren nur noch 25 kg Gepäck erlaubt, nach Riga war es noch doppelt so viel gewesen. Die Detmolder Jüdinnen und Juden wurden am 30. März 1942 in Begleitung eines Polizisten mit dem Zug nach Bielefeld gebracht und mussten ihre letzte Nacht vor dem Abtransport im Sammellager „Kyffhäuser“, einer ehemaligen Gaststätte, zubringen. Am Nachmittag des folgenden Tages, am 31. März 1942, wurden die Menschen vom Bielefelder Güterbahnhof und nun in Viehwaggons nach Warschau verschleppt.
Paula Paradies wurde im März 1942 nach Warschau deportiert. Vor ihr steht Ellen Meyer aus Bad Driburg. Frau Paradies war deren "Pensionsmutter" während ihrer Schulzeit an der Detmolder jüdischen Schule. Ellen Meyer wurde im Sommer 1942 nach Theresienstadt deportiert. (Quelle: Stadtarchiv Detmold).
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Paula Paradies wurde im März 1942 nach Warschau deportiert. Vor ihr steht Ellen Meyer aus Bad Driburg. Frau Paradies war deren "Pensionsmutter" während ihrer Schulzeit an der Detmolder jüdischen Schule. Ellen Meyer wurde im Sommer 1942 nach Theresienstadt deportiert. (Quelle: Stadtarchiv Detmold) |
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Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in Detmold für Jeanette Schiff (Großmutter von Hedwig Block und vermutlich deren älteren Schwester) Ida Block und Hedwig Block. An Hedwig Block, die nach Warschau deportiert wurde, wird hier erinnert. (Foto: Gudrun Mitschke-Buchholz) |
Im Detmolder Gedenkbuch (www.gedenkbuch-detmold.de) finden sich die Schicksale von mehr als dreißig Menschen, die auf diesen Transport in das völlig überfüllte Ghetto in Warschau gezwungen wurden und damit in eine Welt von Hunger, Elend, Gewalt und Terror. Zu ihnen gehörte Max Alexander, der als Lehrer in der jüdischen Schule gearbeitet hatte, und dessen Frau Elly. Seine Kollegin Hedwig Block hatte als Englischlehrerin noch die Ausreisewilligen durch ihre Sprachkenntnisse bei ihren Behördenkorrespondenzen unterstützt. Auch sie wurde nach Warschau deportiert. Auf dem Detmolder jüdischen Friedhof erinnert ein Gedenkstein an sie, und eine Straße in Detmold wurde ihr zu Ehren benannt. Paula Paradies hatte ein renommiertes Hutgeschäft betrieben und zuletzt als sog. Pensionsmutter jüdischen Schülerinnen wie Margot Rothenberg ein Zuhause geboten. Auch Heinz Rosenbaum aus Detmold, dessen Vater Walter Rosenbaum bereits 1938 im Lindenhaus gestorben war, gehörte zu den Schülerinnen und Schülern der jüdischen Schule in der Gartenstraße. Zusammen mit seiner Mutter Frieda wurde der fast Dreizehnjährige nach Warschau deportiert. Auch seine Schwester Inge wurde vermutlich zusammen mit ihrem dreijährigen Sohn Dan in das Ghetto verschleppt. Else und Hans Marx wurden zusammen mit ihrer Schwester und Schwager Babette und Otto Katz in ein Zimmer im Ghetto eingewiesen. Man möchte hoffen, dass es ein Trost für sie war, wenigstens zusammen zu sein. Doch Hans Marx wurde bereits im April 1942 nach Treblinka transportiert, wo er vermutlich beim Aufbau des Vernichtungslagers mit arbeiten musste. Else Marx erkrankte an Typhus und wurde zusammen mit ihrer Schwester Babette vermutlich 1943 in das Ghetto in Lublin transportiert. Keiner von ihnen überlebte. Auch Otto Katz wurde nach dem Krieg für tot erklärt.
„Hat denn niemand von den Detmoldern geschrieben?“
So fragte Erna Hamlet im Juni 1943 auf einer nur fragmentarisch lesbaren, aber immerhin erhaltenen Postkarte, die sie als Zwangsarbeiterin der Fa. Walter Többens aus dem Arbeitslager Poniatowa an Irene Hesse in Detmold schrieb und dringlich nach Päckchen fragte. Auch Erna Hamlet war nach Warschau deportiert worden und schrieb nun, dass sie täglich eine halbe Stunde Fußmarsch zum Werk absolvieren musste. Brombeeren und Heidelbeeren brächten eine gute Ernte. Über das Ende von Erna Hamlet ist nichts bekannt. Sie gilt als verschollen. Auf jener Postkarte erwähnte sie ihre Mutter Helene, von der sie nichts gehört habe und fragte, ob sie wohl noch „in Th.“ sei. Tatsächlich überlebte Helene Hamlet Theresienstadt und kehrte für einige Zeit nach Detmold zurück. In Detmold hatte Erna Hamlet als Stenotypistin für die Lippische Landeregierung gearbeitet, bis Joseph, später Jürgen Stroop im März 1933 für ihre sofortige Entlassung sorgte. Stroops steile Karriere hatte nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Detmold seinen Anfang genommen, als er zum Führer der Hilfspolizei des Landes Lippe ernannt worden war. Zahlreiche Beförderungen außerhalb Lippes brachten ihm den Rang des Generalmajors der Polizei ein. Von Heinrich Himmler wurde Stroop im April 1943 mit der Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Ghetto beauftragt. Unter schwierigsten und unvorstellbaren Bedingungen, halbverhungert und ihr Sterben vor Augen, hielten Ghettobewohner diesen Aufstand vier Wochen lang - bis es am 24. Mai 1943 durch Stroop hieß: „Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr.“ Das Ghetto wurde dem Erdboden gleichgemacht. Die Menschen, die nicht den vorigen „Auskämmaktionen“ zum Opfer gefallen waren, wurden noch vor Ort oder in Treblinka ermordet. In Stroops Bericht wird von 56065 Menschen gesprochen, die ihm in die Hände fielen.
Über das Ende der Detmolder Opfer wissen wir wenig. Berichte über den katastrophalen Alltag im Warschauer Ghetto und zahlreiche Fotos von verhungernden und geschundenen Menschen auf den Straßen lassen erahnen, unter welchen Bedingungen sie um ihr Leben gebracht wurden.
Drei Monate nach der Deportation nach Warschau verließ im Sommer 1942 der nächste Transport Detmold. Das Ziel war Theresienstadt. Und nun standen auch Eduard Kauders und Moritz Herzberg mit ihren Familien auf der Liste.
Detmold, im März 2022
Zum Gedenken eines Überlebenden aus Detmold
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Fritz Herzberg, 1938 (Foto: Sammlung Joanne Herzberg) |
Fred Herzbergs Geburtstag jährt sich in diesem Jahr zum einhundertsten Mal
Gudrun Mitschke-Buchholz
Am 11. Juni 1921 wurde Fritz Herzberg in Detmold geboren. Zwei Jahre zuvor hatten seine Eltern Moritz und Johanna ein Konfektionswarengeschäft in der Langen Straße 71 übernommen. Hier wohnte bis 1931 die Familie zusammen mit Johannas Mutter Emilie Frank und Moritz Schwester Selma, die zeitweilig Fritz und auch dessen ein Jahr später geborene Schwester Gerda versorgte. Die Herzbergs gehörten zur jüdischen Gemeinde Detmold, in deren Vorstand sich Moritz Herzberg engagierte.
Mit der Regierungsübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 setzten auch für Fritz und seine Familie Ausgrenzung, Anfeindungen und Diffamierungen ein, an dessen Ende der Völkermord an den Juden stand. Für Fritz wurde der Schulbesuch in der Oberrealschule durch gewalttätige Übergriffe seiner Mitschüler so unerträglich, dass er vorzeitig die Schule verlassen wollte, was jedoch sein Vater zu verhindern wusste. 1937 begann Fritz Herzberg in Hannover eine Lehre als Klempner, die er allerdings nicht beenden konnte. Auch für seine Eltern bedeutete der Novemberpogrom 1938 nicht nur das Ende ihres Betriebes und damit den Verlust der wirtschaftlichen Existenz. Moritz Herzberg wurde in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt, wo er vier Wochen später als alter und gebrochener Mann entlassen wurde.
Mit dem Wissen, das es nun ums Überleben ging, betrieben auch die Herzbergs verzweifelt ihre Flucht aus Deutschland. Fritz erhielt durch familiäre Verbindungen die Chance, mit einem der Kindertransporte nach England zu gelangen, obwohl er eigentlich schon zu alt dafür war. Er verließ Detmold im Februar 1939 mit dem uneinlösbaren Auftrag, nicht nur sich, sondern auch seine Familie zu retten. Als sich ihm in England keine Möglichkeiten boten, seine Angehörigen zu unterstützen oder gar nachzuholen, reiste er weiter nach Nord-Rhodesien, dem heutigen Sambia, und versuchte von dort verzweifelt und vergeblich seine Mission zu erfüllen. Zahlreiche Auswanderungsversuche der in Detmold gebliebenen Familie scheiterten.
Als im Oktober 1941 das generelle Auswanderungsverbot für Juden erlassen wurde, saßen auch die Herzbergs in der Falle. Lange Monate ohne jeden Kontakt zu seiner Familie, versetzten Fritz, der sich nun schon länger Fred nannte, in höchste Angst um seine Angehörigen. Im Juli 1942 erreichte ihn ein Brief über das Rote Kreuz, in dem ihm sein Vater in den nur 25 erlaubten Worten mitteilte, dass ihr „Wohnsitz“ nun wahrscheinlich nach Theresienstadt verlegt würde.
Erst im Oktober 1945 erfuhr Fred Herzberg das volle Ausmaß dieser Katastrophe, die sein Leben zerriss und zutiefst beschädigte. Sein Vater und seine Großmutter waren in Theresienstadt umgekommen, seine Mutter und seine Schwester Gerda waren in Auschwitz ermordet worden. Insgesamt vierzehn Mitglieder der einst großen Familie Herzberg wurden Opfer des Völkermordes. Fred Herzberg kämpfte Zeit seines Lebens mit dem Gefühl versagt zu haben, da er seine Familie nicht zu retten vermochte und selbst überlebt zu haben. Sein gesamtes weiteres Leben war durchdrungen von dieser „Überlebensschuld“ und von den unwiederbringlichen Verlusten, für die es keinen Trost gab.
1947 wanderte Fred Herzberg zu seinem Onkel und seiner Tante in die USA aus. In St. Louis, Missouri arbeitete er in dessen Schmuckgroßhandel, den er später übernahm. 1950 heiratete er Lotti Jacobsthal, die ebenfalls Überlebende war. 1956 wurde ihr Sohn Michael geboren. Nach Lottis frühem Tod, heiratete Fred ein zweites Mal, wiederum ein ehemalige Deutsche. Lore Müller kam ursprünglich aus Hamburg. 1961 kam ihre Tochter Joanne zur Welt. Über die leidvolle Vergangenheit und seine traumatischen Verluste sprach Fred Herzberg nur äußerst selten, so dass seine Kinder kaum etwas über ihren Vater und auch über ihre Vorfahren wussten. Ein beharrliches und hoch wirkmächtiges Schweigen lastete über ihrem Leben.
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Fred Herzberg, St. Louis, 2007 (Foto: Sammlung Joanne Herzberg) |
Am 31. Januar 2008 starb Fred Herzberg schwer herzkrank in St. Louis. Sein Versprechen, nie wieder deutschen Boden zu betreten, hatte er stets eingehalten. Erst als seine sorgsam aufbewahrten Briefe und Postkarten seiner Familie aus den Jahren 1939 bis 1946 ausgewertet und auch in dem Band „Lebenslängliche Reise“[1] im Jahr 2013 publiziert wurden, eröffnete sich ein Blick auf dieses Leben und das gewaltsame Ende und ermöglichte damit auch einen vertieften Zugang zu Fred Herzberg und dessen Schicksal.
Seine Tochter Joanne verließ vor wenigen Jahren die USA, wählte Detmold als ihren Wohnort und nahm damit die abgerissenen Wurzeln ihrer Familie wieder auf. Im Jahr 2020 wurden aufgrund ihrer Initiative Stolpersteine für ihre Familie in ehrendem Gedenken verlegt. Schon seit langem wird der Familie Herzberg und Emilie Frank auch auf der Gedenktafel an der alten Synagoge und im Detmolder Gedenkbuch gedacht. Die nachgelassenen Briefe ihrer Angehörigen übergab Joanne Herzberg dem Stadtarchiv Detmold.
Juni 2021
[1] Gudrun Mitschke-Buchholz: Lebenslängliche Reise. Briefe der jüdischen Familie Herzberg aus Detmold 1939 -1946. Bielefeld 2013